Mit ihrer neuen Sozialpolitik bereitet die SPD Deutschland auf eine Zukunft vor, die sehr, sehr viele Veränderungen mit sich bringen wird. Und genau deshalb muss der Staat alles tun, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken.
Unsicherheit ist der Nährboden für Populisten. Und wir leben in unsicheren Zeiten. Auch wenn sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen mit ihrer finanziellen Situation zufrieden oder sogar sehr zufrieden zeigt, gilt diese aktuelle Selbsteinschätzung nicht mehr als Stabilitätsparameter. Die Unsicherheit hat andere Ursachen, denen man auch nicht mit den Rezepten von vor 20 Jahren begegnen kann. Denn vor 20 Jahren gab es diese Ursachen noch gar nicht.
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, gegen den die industrielle Revolution ein schleichender Prozess war. Alleine das Smartphone hat das Leben der Deutschen und ihren Alltag so dramatisch verändert, wie kaum eine Erfindung zuvor. Die technologische Entwicklung seit dem Amtsantritt des letzten sozialdemokratischen Kanzlers vor zwei Jahrzehnten ist atemberaubend. Mit allen Konsequenzen auf das Arbeitsleben, den Medienkonsum, das Privatleben und die globale Vernetzung. Es gibt nicht den kleinsten Bereich unseres Alltags, der nicht auf den Kopf gestellt wurde.
Vor allem aber erleben wir, dass sich viele Menschen in einem nervösen Dauerzustand befinden. Und viele auch einen permanenten Veränderungsdruck verspüren.
Alleine in den letzten zehn Jahren durchlebten die Menschen in Deutschland eine massive Konjunkturkrise (2009) mit langen Kurzarbeitsphasen bis hinein in die Boomregionen von Bayern und Baden-Württemberg. Sie erlebten die Eurokrise, die in Kombination mit der weltweiten Rezession zu Dauerniedrigzins und dem Niedergang der Lebensversicherungen führte. Sie erlebten eine massive Binnenmigration mit einer regelrechten Landflucht der jungen Leute in die Ballungszentren und Boomstädte. Mit doppelten Folgen: Ausdünnung, Ladenschließungen, ÖPNV-, Schul- und Kitaabbau und damit Vergreisung auf der einen Seite – explodierende Mieten, Gentrifizierung, Überlastung der Infrastruktur, Schul- und Kitamangel sowie Bauboom und Dauerbaustellen auf der anderen.
Diese im Alltag aller Menschen spürbare Veränderung wird nun noch ergänzt durch erste Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schlüsselindustrien und Symbole des Wohlstands. Die Deutsche Bank, Volkswagen, Karstadt-Quelle – Symbole des Wohlstands durchleben Krisen oder verschwinden gleich ganz vom Markt. Die Dieselkrise führt zu zusätzlicher und direkt erlebter Verunsicherung. Die Produkte von BMW, Mercedes, Audi, Porsche, Volkswagen – aufgrund einer beispiellosen Technologieverweigerung Ihrer Chefs bald Auslaufmodelle oder gar versehen mit dem Makel eines Fahrverbotes in Ballungszentren im In- und Ausland?
Und im Privatleben spüren die Menschen auch einen permanenten Kommunikationsdruck und deutlich gestiegene Erwartungen an Erreichbarkeit, Erziehung, Ernährung, Sozialverhalten und digitale Kompetenz.
Hinzu kommen die gesellschaftlichen Veränderungen, die manche mehr irritieren als andere. Die Stichworte hier: Emanzipation, Ehe für alle, Patchwork, Internationalisierung der Gesellschaft.
Obendrauf erleben wir den Klimawandel nun auch in Deutschland und Europa und kennen ihn nicht mehr nur aus Berichten von fernen Ländern.
Diese Veränderungen fanden und finden statt – und zwar völlig unabhängig von den Flüchtlingsbewegungen und deren Höhepunkt in Deutschland 2015/2016.
Schon vorher stand also fest: Alles ist in Bewegung. Planbarkeit wird schwieriger. Zukunftsszenarien werden immer schneller Gegenwartsszenarien.
Auf Veränderung gibt es drei Reaktionsmöglichkeiten:
- Stagnative Fixierung auf die Gegenwart und Verteidigung des Status Quo.
- Reaktionäre Idealisierung des Gestern, Flucht in die Vergangenheit
- Aktive Gestaltung der Zukunft.
Die SPD geht mit ihrer Neuordnung des Sozialstaates einen ersten, mutigen Schritt nach vorne. Weitere werden folgen. Den Beginn aber macht ein umfassendes Konzept, bei dem man vor allem eines spürt, was vielen anderen Akteuren abgeht: eine substantielle Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre und eine Ausrichtung entlang der Anforderungen der nächsten zwanzig Jahre.
Die neue Führung unter Andrea Nahles hat damit in weniger als zwölf Monaten wesentlich mehr geleistet als ihre Vorgänger und auch die Konkurrenz über die letzten Jahre. Dieses Konzept ist belastbar und genau das ist auch der Grund, warum die SPD (endlich) mal wieder richtige Gegner in den neoliberalen Lobbyverbänden der Industrie findet. Einer Industrie, die aufgrund ihrer eigenen Zukunftskonzepte sehr großen Anlass für Demut und Zurückhaltung hätte.
Die wichtigste Aufgabe demokratischer Führung über die nächsten Jahre ist die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. In Zeiten schneller Umbrüche, wachsender Unsicherheit und zunehmendem Populismus ist sozialer Zusammenhalt die Lebensversicherung einer freien und vielfältigen Demokratie. Demokratien müssen immer besser sein als undemokratische Regime, um sich gegen Angriffe der Populisten zu immunisieren. Freier und erfolgreicher aber auch sozialer, berechenbarer und gerechter.
Mit der Neuausrichtung des Sozialstaates ist der SPD ein großer Wurf auf dem Feld ihrer Kernkompetenz gelungen. Vor allem aber ist es eine Abkehr vom neoliberalen Mantra der Vergangenheit, das auf staatlichem Misstrauen gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern beruhte. Die Zukunftssorgen, die viel Bürgerinnen und Bürger gerade umtreiben, sind nicht auf ein paar Hartz IV-Betrugsfälle zurückzuführen. Die wahren Probleme mit denen wir gerade und in nächster Zukunft konfrontiert werden, wurden und werden in den Chefbüros von millionenschweren Unternehmenslenkern verursacht, die in ihrer Selbstverliebtheit und Sattheit die Zukunft verpennt haben. Und die jetzt schon wieder nach dem Staat rufen, der sie retten soll.
Autor: Frank Stauss