Vor wenigen Tagen fuhr ich durch das schöne nordöstliche Brandenburg und wurde von mehreren handgefertigten Hinweisschildern am Wegesrand auf leckeres „Original-DDR-Softeis“ und „Original-DDR-Kuchen“ aufmerksam gemacht. Erst zweihundert, dann einhundert, dann nur noch fünfzig Meter, dann rechts. Etwas in Eile musste ich auf diese Leckerbissen leider verzichten, stellte mir aber dennoch vor, wie ich etwa im schönen Westerwald auf Werbetafeln reagieren würde, die „Original-Drittes-Reich-Schnittchen“ anpriesen. Vermutlich verstört. In diesem gedanklichen Umfeld fiel es schon gar nicht mehr auf, dass ich laut Wahlplakaten in genau diesem Landstrich schon Ende September den sofortigen und vollumfänglichen Weltfrieden wählen konnte. Der ja bekanntlich schon immer von deutschem Boden ausging.
Ich hielt also nicht an, um den vermutlich sehr leckeren Kalten Hund zu genießen, sondern folgte dem Motto eines weiteren Plakats, das mich zur sofortigen „Remigration“, und zwar nicht irgendwann, sondern „jetzt“, aufforderte. Stets gehorsam steuerte ich mein sowieso unerwünschtes Elektromobil umgehend gen Westen und gewann damit Zeit genug, um darüber zu sinnieren, was in den letzten 35 Jahren eigentlich so vor sich gegangen war, um in dieser Gegenwart zu landen.
Seit 35 Jahren mache ich Wahlkämpfe, und einer meiner ersten bezahlten Jobs in diesem entspannten Metier führte mich im Januar 1990 nach Ostberlin, die Hauptstadt der DDR. Die erste (und auch letzte) freie Wahl zur Volkskammer der DDR im März 1990 stand bevor, und man hatte in der DDR sicher viele Dinge fürs Leben lernen können, aber Wahlkämpfe mit echter Konkurrenz und tatsächlich zählenden Stimmzetteln in versiegelten Urnen gehörten nicht dazu. Jetzt, wo sich diese Wahl bald zum 35. Mal jährt, ist vielleicht kein schlechter Zeitpunkt, um ein paar Gedanken zum Stand der Demokratie loszuwerden.
Es ist offensichtlich, dass nicht unerhebliche Teile der verbliebenen Bevölkerung des Ostens (12,6 Mio. ohne Berlin) in einer gefährlichen Nostalgiefalle feststecken, die sie nur immer weiter von dem entfernt, was man unter einer guten Gegenwart, einer guten Zukunft und tendenziell guter Laune versteht. In Verbindung mit der seit vielen Jahrzehnten von der jeweils aktuellen SED-PDS-Links-BSW-AfD-Ostalgiepartei gepflegten permanenten Opferrolle entsteht eine vermeintliche Ohnmachtssituation, die der faktischen Wirklichkeit, der Selbstbestätigung durch die Anerkennung der tatsächlich selbst geschaffenen Erfolge und vor allem jeglicher Lösungsoption diametral entgegensteht.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem aus Sicht breiter Bevölkerungsschichten Ostdeutschlands „der Westen“ an nahezu allem Unheil Schuld trägt – auch an Putin. Scheinbar fällt es vielen Menschen schwer zu glauben, dass sie bzw. ihre Eltern schlicht das Pech hatten, im falschen Sektor Restdeutschlands gelandet zu sein. Schuld am Krieg überhaupt hatte ganz Deutschland. Die Ostdeutschen traf nicht mehr und nicht weniger Schuld als die Westdeutschen, die durch Zufall in einem der anderen drei Sektoren gelandet waren. Auf der Strecke hatte Westdeutschland einfach die deutlich clevereren Besatzer, die sich mit dem zerbombten Haufen Schrott und Nazis, den sie da an der Backe hatten, wenigstens langfristig einen Demokratie- und selbstredend auch Handelspartner und Absatzmarkt schaffen wollten. Hat geklappt. So war das halt und ist nachträglich auch nicht zu ändern.
Es gab und gibt im Westen aber nicht nur Gewinner und im Osten nicht nur Verlierer. Kurios, dass man das überhaupt erwähnen muss. Weder vor noch nach der Wende ist entgegen weitverbreiteter Mythen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik Geld vom Himmel gefallen. Und auch dort haben sehr viele Menschen ihre eigenen Probleme, leiden viele Landstriche an Landflucht, gibt es auch entvölkerte Dörfer, mangelhafte Infrastruktur, rückständige Digitalisierung, marode Schulen – und ja – es gibt sogar Menschen, die nichts erben oder nur Schulden. Was heute in den westlichen Ländern steht, ist nicht von selbst „auferstanden aus Ruinen“, sondern das Ergebnis sehr hart arbeitender Menschen. Ebenso wie die massiven Transferleistungen bis zum heutigen Tag, über die sich im Westen übrigens kaum jemand je beschwert hat.
Und dennoch lebt der Mythos fort, zu kurz gekommen zu sein. Im Vergleich zu wem? Und unterrepräsentiert auf allen möglichen Ebenen. Im Vergleich zu wem? Im Vergleich zu „den Westdeutschen“ im Allgemeinen? Alleine diese Rechenart ist ja schon entlarvend. Wer zählt denn in den alten Bundesländern die Vorstandsvorsitzenden aus Schleswig-Holstein? Sind die Rheinland-Pfälzer gemäß ihres Bevölkerungsanteils ausreichend in universitären Führungspositionen vertreten? Wie stark sind die Deutschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen repräsentiert? Diese gut 12 Millionen Mitbürger sind ja zahlenmäßig fast ebenso viele wie die in ostdeutschen Ländern lebenden. Die Bundesrepublik hatte schon einen ostdeutschen Bundespräsidenten und sechzehn Jahre lang eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, die aber beide nicht zählen, weil sie sich – zu Recht – nicht als Opfer sehen wollten, sondern als Deutsche.
Es gibt nirgendwo auf der Welt einen Anspruch darauf, dass einem das gute Leben dort serviert wird, wo man gerade sitzt und wartet. Für junge Menschen gab und gibt es schon immer zwei Möglichkeiten: Entweder man schafft sich vor Ort ein gutes Leben mit Ideen und Tatkraft, oder man geht dorthin, wo es eine bessere Zukunft gibt. Junge Leute gehen auch fort, weil sie es wollen. Weil sie in der Stadt leben möchten oder in anderen Ländern, weil sie bessere Perspektiven für sich und ihre Lieben sehen und nicht sonderlich an ihrer Heimat hängen. Weil es ihnen in der Kleinstadt einfach zu piefig ist, zu konservativ oder zu rechts. Aber im Osten gehen junge Erwachsene angeblich nur fort, weil sie müssen. Alles – selbst der Aufstieg an anderen Orten als dem Geburtsort – wird in die Opfererzählung übersetzt.
Die bisherige Antwort der Regierenden aus Ost und West lief immer nach dem gleichen Schema ab: “We feel your pain. Ihr habt mehr Respekt verdient. Der Bundespräsident kommt jetzt auch mehrfach zur Therapiesitzung vorbei,” etc. Aber für viele Empfänger bestätigte das nur ihre Sicht der Dinge, dass der Westen ihnen alles kaputtgemacht hat – und es jetzt auch noch zugibt. Vielleicht müsste die Antwort eher lauten: “Get over it and get a life.”
Je mehr gelitten wurde, desto mehr Geld kam, und die Formel des Tages lautet: Je mehr Nazis, desto Chipfabrik. Das rätselhafte Ostleiden darf auch nur von gebürtigen Ostdeutschen analysiert und ggf. sogar kritisiert werden, da allen anderen Deutschen auch nach über drei Jahrzehnten im gleichen Staat keinerlei Meinung erlaubt ist – vermutlich aus Gründen der Cultural Appropriation. Das war den meisten Westdeutschen bisher auch relativ egal, da sie im Gegensatz zur häufig verbreiteten Legende nicht den ganzen Tag über den Osten lästern. Der Osten ist den meisten Westdeutschen ebenso egal wie Hessen oder Niedersachsen, wenn sie nicht gerade in Hessen oder Niedersachsen wohnen.
Jetzt jedoch haben wir einen Punkt erreicht, an dem aus dem Osten eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland ausgeht. Denn der Osten und sein nahezu von allen – von ganz links bis ganz rechts und vielen dazwischen – befeuerter Opfermythos ist der ideale Nährboden für den Rechtspopulismus, wie wir ihn auch aus anderen Regionen der kleiner werdenden demokratischen Gemeinschaft kennen. In Kombination mit den nicht gefestigten demokratischen Strukturen und dem mit hoher Wirkkraft vorangegangenen Beschuss der unabhängigen Medien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sorgt der Medienwandel für den Wegfall des Korrektivs einer funktionierenden freien Presse.
Lange konnte man sich damit trösten, dass doch immerhin 60-70-80% je nach Bundesland am Ende doch „demokratisch“ wählen. Aber von Wahl zu Wahl nimmt dieser Anteil ab. Und eine Partei wie das extrem unseriös argumentierende und auch finanzierte BSW durchbricht diese Regel eben nicht, sondern bestätigt sie.
Die zentrale Frage, die sich heute stellt, ist: Wie stabilisieren wir jetzt eigentlich diejenigen, die sich weder in DDR-Nostalgie, Faschismus noch nationalem Sozialismus wiederfinden? Die in den ostdeutschen Landesteilen ein gutes, normales, zufriedenes und auch glückliches Leben führen und lieber nach Griechenland reisen als zur Wolfsschanze?
Eine entscheidende Rolle kommt dabei denjenigen zu, die tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland angekommen sind – oder gar schon in ihr geboren wurden. Betrachtenswert ist ja, dass die Generation, die 1989/90 in der Mitte des Lebens stand und auch durch die Umbrüche der Nachwendezeit am stärksten geprägt wurde – also die damals 35- bis 50-Jährigen – heute 70 bis 85 Jahre zählt und längst in Rente ist oder bereits verstorben ist. Wer zur Wendezeit 15 Jahre alt war, ist heute 50 und hat nicht nur den Zusammenbruch, sondern eben auch massiven Aufschwung und viele neue Freiheiten erlebt – und häufig auch genossen. Und jetzt nähern wir uns der Zeit, in der es die DDR bald länger nicht mehr gibt, als es sie gab.
Solange der ewige Opfermythos auch noch von Generation zu Generation weitergetragen wird, wird sich nichts zum Besseren wenden. Und solange alle Probleme in den ostdeutschen Ländern mit dem Opfermythos erklärt werden, wird das Gift des Neids sich weiter ausbreiten. Für viele der immer wieder aufgeführten Probleme (Landflucht, geringe Industriedichte, zu wenige Universitäten, kaum größere Städte/Ballungsgebiete etc.) lassen sich vielfältige Erklärungen finden, die mit dem ostdeutschen Spezifikum wenig oder gar nichts zu tun haben.
Aber solange alles in die Opfer-Rahmenerzählung gequetscht wird – und was nicht passt, wird passend gemacht – kann es keine gute Zukunft geben. Die Befreiung des Ostens aus dem Opfermythos muss aus der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft kommen.
Die Heilung des Ostens ist nicht delegierbar.